Beobachtungen zum Flugverhalten von Ohrwürmern am Licht in Siedlungsgebieten (Insecta, Dermaptera)
von U. Lehmann, Großenhain & D. Matzke, Leipzig
Zusammenfassung
Das Auffinden des Großen Sandohrwurmes Labidura riparia (Pallas 1773) beim Lichfang im dritten Obergeschoß eines Wohnhauses mitten im Siedlungsgebiet des sächsischen Großenhain, liefert einen weiteren Hinweis zum mutmaßlich guten Flugvermögen der Art. Die Fundumstände werden erläutert und die Wahrscheinlichkeit eines Vorkommens vor Ort wird begründet. Gleichartige bereits vorliegende Beobachtungen werden gewürdigt. Zwei weitere Ohrwurm-Arten, Labia minor (Linnaeus 1758) und Forficula auricularia Linnaeus 1758, werden regelmäßig dort am Licht beobachtet, deren Flugverhalten wird diskutiert.

Präparat eines Labidura riparia-Weibchens.
Einführung
Im August 2003 wurde vom Erstautor beim Lichtfang auf dem heimischen Balkon der Große Sandohrwurm Labidura riparia gefangen, was anregte, auch den weiteren anfliegenden Ohrwürmern eine erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. Die bei dieser Arbeit berücksichtigten Lichtfänge betreffen die Zeit vom Wohnungsbezug im Sommer 2003 bis zum Sommer 2004. Es liegen bereits ähnliche Beobachtungen zum Lichtanflug von Ohrwürmern vor. Ob sich die geschilderten Beobachtungen bei künftigen Leuchtabenden wiederholen lassen, insbesonderer ein gleichartiger Nachweis des Labidura riparia, bleibt gespannt abzuwarten. Mit der Schilderung der bis jetzt vorliegenden Erkenntnisse hoffen die Autoren, das Interesse der Kollegenschaft zu wecken, etwas intensiver auf das Verhalten der heimischen Ohrwürmer zu achten und dieses natürlich ebenso bekannt zu machen.Methoden und Umgebungsfeld des Leuchtortes
Zum Einsatz kam eine UV-Leuchtstofflampe, Länge 0,6 Meter (VEB NARVA UVS 20-2), betrieben an einer konventionellen Schaltung (Netzspannung 230 Volt - Starter, Drossel 20 Watt). Die Leuchte wurde zunächst senkrecht auf das Fensterbrett (Balkonrückwand) gestellt, ab Ende August 2003 stets 0,7 Meter über diesem senkrecht aufgehangen, dahinter ein weißes Tuch befestigt. Die Höhe des Fensterbrettes und der Balkon-Brüstung stimmt nahezu überein (das entspricht zirka 10,3 Meter über Erdboden).
Der Abstand der Leuchte zur Balkon-Brüstung beträgt etwa 1,2 Meter. Das ist insofern interessant, da sich somit keine direkte Ausstrahlung des Lichtes nach unten ergibt. Inwieweit Reflexionen der Balkondecke und -wände, die allesamt hell gehalten sind, in die Umgebung wirken kann schwerlich eingeschätzt werden. Eine direkte Sichtverbindung (Bezug ist Erdboden) zum oberen Ende der Leuchte, ergibt sich etwa in 25 Meter Entfernung vom Haus. Der Balkon ist gen Süden ausgerichtet. Unmittelbar dem Leuchtort vorgelagert, an das Hausgrundstück, grenzt eine bewirtschaftete Wiese (Heugewinnung).
Umfeld des Leuchtortes

„Flughabitat“ von Labidura riparia und Labia minor.
In direkter Umgebung des Leuchtortes sind Kleingewässer, wie Gräben in Kleingärten, vorhanden. An benannte Wiese anschließend, etwa 150 Meter südlich nach lockerer Wohn-Bebauung, beginnt der Großenhainer Stadtpark durch den die Röder und deren Kanäle verlaufen.
Etwa 2 bis 3,5 Kilometer westlich, entlang der Röder, sind mit dem ehemaligen Truppenübungsplatz bei Kleinraschütz (Ginster-Heide) und der Binnendüne bei Skassa am Röderknie, ausgesprochen sandige Habitate zu finden - wie der sächsische Naturraum „Großenhainer Pflege“ (umrissen bei BASTIAN 2003 und BLASCHKE 1999) insgesamt vom Sand geprägt ist.
Ergebnisse
Beim Balkon-Lichtfang im dritten Obergeschoß konnten Labidura riparia und Labia minior nachgewiesen werden. Als eine weitere Ohrwurm-Art ist Forficula auricularia am Ort vom Licht des Hauseinganges bekannt.
Der Sandohrwurm Labidura riparia, wegen seiner Größe bis 30 Millimeter ohne Cerci und seiner strohgelben Färbung, einer der auffälligsten Ohrwürmer unserer Fauna, stellte sich in zwei Weibchen am 03. August 2003 ein. Näheres zur Fundzeit wurde nicht registriert. Der Lichtfang dauerte etwa von 21.30 bis 24 Uhr (MSZ). Beide Tiere saßen mit verpackten Flügeln recht aphatisch auf einem weißen Tuch, welches auf dem Balkonboden ausgelegt war.
Der Kleine Zangenträger Labia minor kann recht regelmäßig beim Lichtfang und dann in mehreren Exemplaren beobachtet werden. Die Art ist recht aktiv in der Umgebung der Lampe, läuft am Tuch welches hinter der Lampe befestigt ist, bzw. auf dem Fensterbrett unter der Lampe. Zwei Belege vom August 2003 und August 2004 sind jeweils Weibchen.
Der Gemeine Ohrwurm Forficula auricularia ist dagegen noch nicht beim Balkon-Lichtfang beobachtet worden, sitzt jedoch regelmäßig nachts unterhalb der Hauseingangsbeleuchtung des selben Wohnhauses an der Wand. Der Hauseingang ist auf der Nordseite des Gebäudes gelegen. Die Leuchte befindet sich in zwei Meter Höhe über dem Erdboden.
Für die folgende Diskussion seien noch exemplarisch, als weitere beim Balkon-Lichtfang anfliegende Insekten genannt: Regelmäßig treffen sehr zahlreich Wasserwanzen Sigara spec. ein, zwei Belege ergaben Sigara falleni (FIEBER, 1848), und es konnte Ende August 2003 ein Exemplar des Laufkäfers Omophron limbatum (Fabricius 1776) nachgewiesen werden.
Diskussion
Anfang August 2003 gelang der Nachweis zweier Weibchen von L. riparia im sächsischen Großenhain. Die Fundumstände stellen sich in Bezug zur Flugfähigkeit sehr interessant dar. Die Tiere wurden mitten im Siedlungsgebiet in der 3. Etage eines Wohnhauses am Licht gefunden. Ein gleichartiges Auffinden dieser Art ist aus Leipzig-Eutritzsch im Jahr 1990 (MATZKE 1999) bekannt. In diesem Fall wurde auch ein Weibchen an der Lampe sogar in der 4. Etage gefunden.
Die Art gilt als Kosmopolit, stelle allerdings spezielle Ansprüche an seinen Lebensraum was die Vorkommen im Verbreitungsgebiet eng umgrenzt. Sie ist bekannt von Sandflächen und Dünengebieten an der Meeresküste oder Seeufern, sowie in ähnlichen Biotopen an Flüssen, auf Binnendünen, in Heiden und auf Abraumhalden der Braunkohletagebaue (GÜNTHER 1989).
Nun stellen sich die Fragen: Stammen die Tiere aus der Umgebung und sind sie, dem Licht zu, auf den Balkon geflogen?
Die meisten geflügelten heimischen Ohrwürmer gelten als flugträge, bzw. es liegen keine genaueren Angaben zum Flugverhalten vor (GÜNTHER 1989, SCHIMENZ 1984). Eine Ausnahme stellt Labia minor dar, worauf noch eingegangen wird.
Beim Sandohrwurm besteht offensichtlich ein Mangel an Kenntnissen, wird doch seine mutmaßlich gute Flugfähigkeit bisher nur indirekt begründet, zum Beispiel mit der guten Ausbildung der Flügel selbst (GÜNTHER 1989) oder anhand der schnellen Besiedelung von Abraumhalden des Bergbaus (SEDLAG 2004). BEIER (1959) nennt jedoch bereits eine Flugbeobachtung am Licht aus Indien. Der Koautor selbst hat eine indirekte Flugbeobachtung in Bulgarien gemacht insofern, dass, bei einem Lichtfang plötzlich ein Etwas sich neben dem Tuch auf einen Holzstapel niederließ. Beim näheren Betrachten wurde ein Sandohrwurm erkannt, der gerade dabei war seine Flügel zu verpacken.
Wie oben geschildert konnte der Anflug der Tiere nicht beobachtet werden. Ein „Lichtkrabbeln“ erscheint jedoch ausgeschlossen. Es ist kein Weg erkennbar, der das ohne Unterbrechung der Sicht zur Lichtquelle ermöglicht hätte und zum anderen ist der Sandohrwurm nicht in der Lage an glatten Flächen empor zu klettern.
Die deutlich erkennbar gut entwickelten Flügel (Foto) machen also gleichsam das Fliegen am wahrscheinlichsten. Ein Anflug vom Boden aus kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden, es spricht aber wenig dafür. Die kürzeste „Flugverbindung“ zur Lampe auf den Balkon beträgt etwa 27 Meter.
Man muss jedoch stets weitere störende Lichtquellen – andere hell beleuchtete Balkone und Fenster – berücksichtigen. Inwieweit bereits Daten vorliegen, dass Insekten auf diese Entfernung von Licht beeinflusst werden, entzieht sich der Kenntnis der Autoren. Ausreichend sicher scheint, dass die Tiere in etwa der Höhe der Lichtfanganlage flogen und diese kräftig genug ist sich gegen „Störquellen“ in gleicher Höhe durchzusetzen. Aus westlicher Richtung kommend sind die wenigsten potentiell störenden Lichtquellen des Wohnhauses vorhanden. Es handelt sich dann um die bereits zweite vertikale Balkonreihe.
Eine nicht unbedeutende Rolle kommt der Nachttemperatur zu, sie beeinflusst entscheidend die Flugaktivität bei Ohrwürmern. In anderen (subtropischen) Regionen konnte eine erhöhte Flugaktivität bei einer Nachttemperatur um 25°C und höher beobachtet werden.
Der Sommer 2003 war außergewöhnlich heiß und trocken und dementsprechend war die Nachttemperatur auch relativ hoch, was in ähnlicher Weise für den Sommer 1990 zutrifft. Leider können zu beiden „Etagen-Anflügen“ in Großenhain und Leipzig nur die subjektiven Einschätzungen der Autoren, dass es sich jeweils um eine „warme Sommernacht“ handelte, einen Hinweis dazu liefern. Spezielle Luft-Ströhmungsverhältnisse, wie sie bei höheren Gebäuden bekannt sind, hier tags aufgeheizte Südseite und die stets schattige Nordseite, können bei der Bewertung dieser Beobachtung nicht ignoriert werden. Das trägt zur schwer zu bewältigenden Komplexität einer befriedigenden Erklärung bei. Klärung, inwieweit der Große Sandohrwurm seine Flugfähigkeit ausnutzt, ans Licht fliegt, gar in größerer Höhe schwärmt, kann zweifellos nur eine erhöhte Aufmerksamkeit der, sich wesentlich anderen Insekten-Ordnungen widmenten, Entomologenschaft erbringen. Insbesondere nun auch bei Leuchtabenden in bekannten Vorkommensgebieten.
Wie oben beschrieben wurden beim Balkon-Lichtfang auch andere Insekten nachgewiesen die Hinweise zu Gewässern und sandigen Ufern geben. Der Laufkäfer Omophron limbatum komme an sandigen Ufern streng biotopgebunden (FREUDE 1976) und auch in Kiesgruben (KOCH 1989) vor. Die zahlreich anfliegenden Wasserwanzen, die als gute Flieger gelten, kommen auch aus weiter Entfernungen zum Leuchtort, können aber auch aus kleinen Gewässern der näheren Umgebung stammen (schrftl. Mitt. ARNOLD 2004). Ein umgrenzbares Habitat eines Großenhainer Vorkommens des Sandohrwurmes kann damit zwar nicht ermittelt werden, es ist aber, wie bereits geschildert, ohne Zweifel, eine für ihn geeignet scheinende Landschaft vorhanden, was ein etabliertes Vorkommen vor Ort vermuten lässt. Das nächst gelegene ist nur etwa 17 Kilometer westlich von Großenhain, in einer Kiesgrube bei Gohlis (leg. MATZKE 1997 – 1999) bekannt.
Der Kleine Zangenträger Labia minor ist ein sehr guter Flieger und kann deshalb weitab vom zusagenden Biotop vorkommen. Nach HARZ (1960) fliegt er direkt ans Licht, das konnte auch beim Lichtfang wie oben beschrieben bestätigt werden. Vom Gemeinen Ohrwurm Forficula auricularia der als Kulturfolger gilt ist das Fliegen bekannt (BEIER 1959, GÜNTHER & HERTER 1974), er wird jedoch als flugträge angesehen. Er kann aus der nächsten Umgebung anfliegen oder direkt ans Licht hochsteigen, wie die über lange Zeit regelmäßigen Beobachtungen an der beleuchteten Wand des Hauseinganges bestätigen. Warum er noch nicht am direkten Lichtfangort anflog kann derzeit nur gemutmaßt werden. GÜNTHER (1989) beschreibt, dass die Art Plätze bevorzug die eine Durchschnitts-Temperatur von 18°C im Juli nicht überschreiten, was die nördliche Gebäudeseite unbestritten eher bietet als die südliche.
Literatur
- BASTIAN, O. (2003): Naturraumbedingungen in Sachsen - In: KLAUSNITZER, B., & REINHARD, R. (Hrsg.) (2003): Übersicht zur „Entomofauna Saxonica“ unter besonderer Berücksichtigung der FFH-Arten und der „Vom Aussterben bedrohten Arten“ in Sachsen. Beiträge zur Insektenfauna Sachsens. Band 1 - Mitteilungen Sächsischer Entomologen, Supplement 1: 16 – 23 & Karte: Umschlagseite.
- BEIER, M. (1959): Ordnung Dermaptera (DEGEER 1773) KIRBY 1813. - Bronns Klassen und Ordnungen des Tierr., Leipzig, 5/III/6: 455–586.
- BLASCHKE, K. (1999): Die Großenhainer Pflege: Landschaft und Heimatgeschichte. - Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz e.V. 3: 11–16.
- FREUDE, H. (1976): Carabidae - In: FREUDE, H., HARDE, K.-W., & LOHSE, G. A. (Hrsg.) (1976): Die Käfer Mitteleuropas, Band 2, Krefeld: 61.
- GÜNTHER, K. (1989): Ordnung Dermaptera - Ohrwürmer - In: Urania Tierreich in sechs Bänden - Insekten, Leipzig-Jena-Berlin: 70–77.
- GÜNTHER, K., & HERTER, K. (1974): Dermaptera (Ohrwürmer). Handbuch der Zoologie. Berlin,4 (2) 2/11: 1–158.
- HARZ, K. (1960): Geradflügler oder Orthopteren (Blattodea, Mantodea, Saltatoria, Dermaptera). - In: DAHL, F. (Hrsg.): Die Tierwelt Deutschlands Bd. 46. - Jena (Gustav Fischer): 232 S.
- KOCH, K. (1989): Die Käfer Mitteleuropas - Ökologie Bd.1, Krefeld: 29.
- MATZKE, D. (1999): Zur Ohrwurm- und Schabenfauna in Leipzig und Umgebung (Insecta: Dermaptera, Blattariae) - Veröff. Naturkundemus. Leipzig 18: 66–80.
- SCHIEMENZ, H. (1984): Dermaptera - Ohrwürmer - In: STRESEMANN,E. (1984): Exkursionsfauna Band 2/1 Wirbellose, Insekten erster Teil: 91–92.
- SEDLAG, U. (2004): Massenflug von Ohrwürmern! - Entomologische Nachrichten und Berichte 48 (2): 79.
Taxonomie nach http://www.faunaeur.org/, Stand 03/2009.
Beitrag erstmalig publiziert: Lehmann, U. & D, Matzke (2004): Beobachtungen zum Flugverhalten am Licht in Siedlungsgebieten (Insecta, Dermaptera). - Insecta 9 (erschienen 2005), Berlin: 81–85.
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